ScrumMaster aufgepasst! Klarheit kommt nicht von allein

Seit ein paar Wochen bin ich in einem neuen Projekt eingesetzt. Ich darf die ScrumMaster in sechs Scrum-Teams coachen. Eine spannende Aufgabe. Bei einem Kaffeegespräch mit einem meiner Coachees stieß ein Mitglied aus einem der Entwicklungsteams dazu und hörte unserer Unterhaltung neugierig zu. Es ging um den Ablauf des Scrum of Scrums (SoS), also die Plattform, um mehrere Scrum-Teams täglich zu synchronisieren, indem sie auf der Grundlage ihres aktuellen Entwicklungsfortschritts Impediments und Abhängigkeiten zueinander besprechen und an einem Taskboard, dem SoS-Board, transparent machen. Der ScrumMaster hatte schon darüber gelesen, aber bis dato hatte man es noch nicht in Betracht gezogen oder für unbedingt notwendig erachtet, sich über die Teamgrenze hinaus und im Rahmen eines Scrum-Meetings regelmäßig zu treffen. Ich war gerade dabei, dem SM den grundsätzlichen Prozessablauf zu visualisieren, um ein einheitliches Bild auf das SoS herzustellen, da fragte das Teammitglied, ob es sich zu meiner spannenden Idee äußern könne. Ich lud ihn ein, sich zu uns zu setzen und uns an seinem Feedback teilhaben zu lassen. (Ich möchte euch das Gespräch gerne in direkter Rede aufschreiben, weil es die Intentionen besser auf den Punkt bringt).
Teammitglied: Ich finde die Idee absolut klasse und der Prozess bei Abhängigkeiten klingt gut nachvollziehbar und auch irgendwie logisch. Aber… (er unterbrach seine Ausführungen).
Ich (nach einer Weile): Aber?
Teammitglied: Ich habe eine Frage.
Ich: Schieß los.
Teammitglied: …wenn es das SoS zukünftig geben wird, darf ich dann Abhängigkeiten noch außerhalb dieses Meetings mit anderen Teams klären oder bringe ich das alles immer ins SoS mit? Ich frage deshalb, weil ich befürchte, dass Teammitglieder durch die Einführung dieses Meetings nicht mehr in andere Teams gehen, weil es ja dann ein Meeting dafür gibt, das den Weg in ein anderes Team quasi ersetzt.
Ich: (schweigend und verblüfft).
Im ersten Moment war ich mir nicht ganz sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte und paraphrasierte seine letzte Aussage. Und es war genau so, wie ich befürchtet hatte, es verstanden zu haben. Das SoS wurde von dem Teammitglied zwar einerseits als hilfreich angesehen, andererseits vermutete es aber eine Gefahr darin, einen Kommunikationsprozess zu etablieren, der jede weitere Kommunikation mit Teammitgliedern aus anderen Scrum-Teams unterbinden könnte. Aber wie konnte das sein? Wie konnte das Teammitglied in einer echten Chance auf (noch) mehr Kommunikation, in erster Linie eine Gefahr identifizieren?
Was haltet ihr davon? Habt ihr Ideen, worin die Befürchtungen begründet lagen? Ich möchte eine Studie vorausschicken, die Antworten auf die gestellten Fragen geben soll.
Fettarme Milch schmeckt
Zwei Gesundheitsforscher waren auf der Suche nach einer wirksamen Methode, Menschen zu einer gesünderen Ernährung zu bewegen. Die beiden einigten sich darauf, ihren Versuch einer Verhaltensänderung für den Konsum von Milch zu starten. Man entschied sich für Milch, weil Milch zwar einerseits gesund (u.a. calciumreich) ist, andererseits aber einen hohen Anteil an gesättigten Fetten enthält.
Ziel war es nun, Menschen dazu zu bringen, ihre Hände von der geliebten Vollmilch zu lassen und stattdessen auf fettarme Milch umzusteigen, weil diese die empfohlene Menge an gesättigtem Fett enthält. Man startete in zwei Gemeinden eine breite Werbekampagne (Radio, Plakate, Radio, Flyer) mit ausdrucksstarken Inhalten Pro-Magermilch, die die Vorteile explizit herausstellte und regelrecht Aufklärung betrieb. Emotionsgeladende Aufklärung, die die Konsumenten wachrütteln sollte. Hierzu wurden u.a. aufwändige Anzeigen geschaltet, die den ungesunden Fettanteil bei Vollmilch detailliert beschrieben und in den Fokus rückten (z.B. ein Glas Vollmilch entspricht fünf Streifen Speck). Die Wissenschaftler konzentrierten sich in den zwei Gemeinden auf acht Geschäfte und verfolgten den Verlauf des Milchvertriebs. Das Ergebnis war bezeichnend: Vor der Kampagne lag der Marktanteil der fettarmen Milch bei verschwindend geringen 18 Prozent, danach waren es 41 Prozent, die sich nach sechs Monaten auf ungefähr 35 Prozent einpendelte (vgl. Reger et. al., 1999, S. 418f.).
Der Schlüssel sind kristallklare Vorgaben
Hätten sich die beiden Gesundheitsforscher darauf beschränkt, zu sagen, dass die Konsumenten sich einfach gesünder ernähren sollen, hätte dies unzählige Interpretationsmöglichkeiten nach sich gezogen, wie gesündere Ernährung denn nun aussehen könnte: weniger Fleisch, weniger Ballaststoffe, mehr Vitamine? Mehr Sport, weniger Cola? Vor diesem Hintergrund wäre eine Veränderung des Konsumverhaltens nie zustande gekommen – viel zu viele Freiheitsgrade. Wenn man will, dass sich Menschen ändern, dann gilt es, “kristallklare Vorgaben” (Heath & Heath, 2010, S. 26) zu liefern. Oder andersherum ausgedrückt wird es wahrscheinlich noch deutlicher: “Was wie Widerstand aussieht, ist oft mangelnde Klarheit” (a.a.O., S. 27).
Dem Teammitglied ging es genauso. Es hatte nur ein paar grobgranulare Informationen über das SoS und leistete auf der Basis der lückenhaften Informationen Widerstand in Gestalt von Zurückhaltung und Befürchtungen. Ohne detaillierte Anweisungen bäumte es sich gegen die Veränderung auf und äußerte Bedenken, die für mich im ersten Moment vollkommen irritierend waren, weil mir kristallklar war, welchen Mehrwert das Scrum of Scrums generieren kann und dass jede Kommunikation außerhalb des Meetings erwünscht und sogar gewollt ist. Das SoS ist eine Art synchronisierender Teaser. Es soll aufzeigen, wo man teamübergreifend steht und wo es ggf. brennt. Das SoS macht transparent, es initiiert und eröffnet Gelegenheiten zur Kommunikation, die außerhalb dieses Meetings zu jeder nur erdenklichen Zeit en detail genutzt werden sollen.
Abschließend eine Unterstützung, die in meinem oben genannten Fall Klarheit gegeben hat. Ich gab kristallklare Informationen zu Purpose (z.B. Synchronisation der Kommunikation zum aktuellen Progress im Sprint über die Teamgrenze hinaus), Outcome (z.B. Impediments und Dependencies), Duration (täglich 15 Minuten nach dem Daily im Team), Setting (je Team ein Teammitglied plus ein ScrumMaster als Facilitator) und Procedure (jedes Teammitglied gibt kurz Info zu Progress, Impediments und Dependencies).
Seitdem treffen sich die sechs Scrum-Teams täglich für 15 Minuten. Noch ist es nicht natürlich, aber die Kommunikation verändert, verdichtet sich. Das Scrum of Scrums lebt.

Literatur

Heath, C. & Heath, D. (2010). Switch. Veränderungen wagen und dadurch gewinnen. Fischer
Reger, B., Wootan, M.G. & Booth-Butterfield, S. (1999). Using Mass Media to promote healthy eating: a community-based demonstration project. In: Preventive Medicine (29), S. 414-421.
www.agilemanifesto.com

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8 Antworten zu “ScrumMaster aufgepasst! Klarheit kommt nicht von allein”

  1. Hagen sagt:

    Guten Tag,
    Ich finde, die Antwort auf die Frage/Befürchtung des Teammitgliedes greift zu kurz und ist nicht mit kristallklaren Vorgaben auszuräumen.
    Mit dem SoS wird ein für ihn fremder/neuer Prozess aufgesetzt. Ohne den Nutzen für die Organisation in Frage zu stellen, geht daraus nicht hervor, dass auch das Teammitglied davon einen Nutzen hat.
    Vielleicht ist dann der bisherige “kleine Dienstweg” nicht mehr gewünscht und die notwendigen Antworten kommen erst am nächsten Tag statt in zwei Stunden. (Also Prozess vor indiviueller Kommunikation; in diesem Sinne äußert sich das Teammitgleid explizit.)
    Ein Prozess bewirkt auch immer ein Stück Möglichkeit, sich hinter ihm zu verstecken und ein Stück Eigenverantwortlichkeit und Selbstorganisation abzugeben – vielleicht problematisch für engagierte Entwickler.
    “Kristallklare Vorgaben” – hört sich irgendwie nach “comand and control” an, auch wenn ich gerne glaube, dass es nicht so gemeint ist.
    MfG
    Hagen
    Hagen

    • David sagt:

      Hallo Hagen,
      danke für dein Feedback. Man hört/liest oftmals gern, was man lesen will.
      “Kristallklar” meint tatsächlich nicht Comand and Control. Warum auch? Das Projekt hat mehrere Teams, die nicht synchron arbeiten und viele Reibungsverluste in der Informationsweitergabe haben. Das SoS soll helfen und es hilft auch aktuell noch, diese Wissenslücken zu schließen oder zumindest eine Plattform zu schaffen, in der die Teams miteinander reden und ihr Tun transparent machen und synchronisieren.
      “Kristallklar” hat auch niemals den Anspruch als “gesetzt” und unantastbar zu gelten. Es soll Klarheit geben, Sicherheit für einen ersten Schritt geben und dann – im Sinne von inspect and adapt – weiter verfeinert werden.
      Ich erlebe gerade live, dass der Prozess “SoS” in dem von mir beschriebenen Fall (Projekt) ein hohes Maß an Eigenverantwortung bewirkt hat. Es findet jeden Tag statt, trotz oder gerade wegen der Freiwilligkeit ist es gut besucht und die Themen (Abhängigkeiten, Impediements) werden zusammen getragen und man geht auf gemeinsame Lösungssuche. Ein echter Gewinn. Ob es an den kristallklaren Vorgaben lag? Ich weiß es nicht.
      Es läuft. Man erkennt einen Sinn. Man kommt gerne. Man findet sich wieder.
      Das zählt.

      • David sagt:

        Und noch zwei Fragen an @Hagen.
        Was fehlt dir bei meiner Antwort? Was hättest du stattdessen geantwortet?
        Freue mich auf deine Ergänzungen.

  2. Hagen sagt:

    Hallo David,
    bei deiner Antwort fehlt mir insofern nichts, da du ja eine Situation beschrieben hast – es ist, wie es ist.
    Was ich vermutlich getan hätte (und du vielleicht auch getan hast, aber aus redaktionellen Gründen weggelassen hast):
    (1) versucht, Ursachen, Sinn, Organisation zu erklären (also in etwa dasselbe getan wie du)
    (2) im Gespräch einen gewissen Schwerpunkt darauf gelegt, dass es kein entweder (SoS) oder (direkte, unstrukturierte Kommunikation) gibt, letztere nicht damit nicht verboten ist, und die SoS auch dem Inspect & Adapt unterliegt
    (3) den Kollegen gefragt, wie das Ganze funktionieren müßte, damit er für sich einen Nutzen darin sieht
    Viele Grüße

    • David sagt:

      Danke für dein Feedback. Deine drei Punkte sind wertvoll und ich finde es ziemlich klasse, dass du das noch mal hier aufschlüsselst.
      Ja, genau darum geht es: Weitsicht, Respekt und Offenheit. Danke für den tollen Input!
      Gruß

  3. Enrico sagt:

    Hallo,
    ich empfinde die Reaktion des Team Mitgliedes als absolut normal und sogar positiv, da er pro aktiv nachgefragt hat, was sich hinter dem SoS verbirgt. Warum warst du also verblüfft? ;o)
    Das erste was ich, insbesondere den POs für das Planning, predige ist, auf Implikationen zu verzichten und alles glasklar hervorzuheben. Das gleiche gilt aus meiner Sicht für alles am Prozess, also auch Änderungen oder Erweiterungen, die ich als Scrum Master dort vornehme.
    ich finde die Frage des Teammitglieds auch absolut legitim, denn der Prozess versucht ja auch in der Form zu struktiurieren, dass er bestimmte Dinge vorgibt, wie z.B. das Planning. Wir wollen ja nicht, dass die POs jeden Tag mit neuen Requirements um die Ecke kommen, sondern dies im Planning “in Stein gemeißelt” vorgeben. Es wäre also durchaus denkbar, dass teamübergreifende Kommunikation nicht mehr außerhalb des SoS stattfinden soll, damit z.B. stark frequentierte Ressourcen auch mal arbeiten können oder die Kommunikation zu bestimmten Themen alle erreicht, dies angeht/interessiert.
    In aller Regel mache ich mir mehr sorgen um die Kollegen, die solche Fragen nicht aktiv stellen, da sie sich gerne hinter solchen Prozessänderungen verstecken. Frei nach dem Motto: “Ich wusste ja nicht, dass ich auch zwischendurch zu XY gehen kann, wir haben doch jetzt diese SoS!”… na ihr kennt diesen Kindergarten sicherlich.
    Ich selber habe mittlerweile auf feste SoS verzichtet und die Entwickler immer wieder in den DS darauf getrimmt, den direkten Kontakt zu ihren Kollegen zu suchen (SoS on demand). Wir identifizieren einen solchen Bedarf immer schnell in den Daily Scrums. Bei Bedarf moderiere ich diese Treffen und nehme die eher kommunikationsängstlichen Kollegen an die Hand. Das diese Herangehensweise für uns gut funktioniert kann auch daran liegen, dass ich hier nur 5 Entwicklungsteams a 6 Leuten betreue. ich finde das absolut überschaubar und sehe keinen Bedarf an einem weiteren festen Meeting.
    Abschließend, nach viel geschriebenem Wort, stimme ich also zu:
    Keine Implikationen, Klare Anweisungen – auch (oder insbesondere) bei den Scrum Mastern… Ich führe beispielsweise Änderungen am Prozess immer über eine so genannte Infosession mit den gesamten Teams (und ggf. POs) ein und unterstreiche diese mit geeigneten Schaubildern. Hier klären wir auch gleich Verständnisfragen. Da in der Regel alle Kollegen anwesend sind, geht nichts verloren. Neue Erkentnisse die sich durch Diskussionen ergeben finden ihren Weg in das Fazit der Infosession und die Minutes. Damit sollte ich dann alle Leute erreicht haben und löse weitere Probleme im Tagesgeschäft.
    Vielen Dank und beste Grüße,
    Enrico

    • David sagt:

      Hallo Enrico, vielen Dank für dein aufschlussreiches und tolles Feedback.
      Verblüfft war ich, weil ich nicht mit der “Befürchtung” gerechnet hatte. Statt die Chance zu sehen, war erstmal die Skepsis da. Ein kulturelles Thema, wie ich finde.
      Und ja, die Frage ist mehr als legitim. Unbedingt. 🙂
      Commitments sollten verbindlich sein und ab da sollte eher nichts mehr von außen (PO) reinkommen. das wäre der Wunsch. Seh ich genau so.
      Viel Erfolg weiterhin in deiner Rolle als ScrumMaster

  4. Patrick Koglin sagt:

    Das Zitat hat mir geholfen: ““Was wie Widerstand aussieht, ist oft mangelnde Klarheit””.
    Danke.

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