Gibt es ein Leben nach dem Jobtitel?

So wie bei vielen anderen Unternehmen auch gibt es auf unserem Portal mehrere Stellenanzeigen. Wir suchen wie verrückt: Senior Consultants, Senior Entwickler, ScrumMaster, Scrum Coaches etc. Vor ein paar Tagen stieß ich in diesem Zusammenhang auf einen spannenden Blogbeitrag von Johann-Peter Hartmann von Mayflower, in Deutschland bekannt für die agile Softwareentwicklung u.a. in PHP. Sein Artikel „Warum wir keine Titel und Positionen mehr haben“ hat mich sehr nachdenklich gemacht. Er schreibt: „Scrum macht jeden Sprint eine Retrospektive, um die Prozesse und Organisationsform kontinuierlich zu adaptieren. Kanban schleppt ein ganzes Sammelsurium von Messinstrumenten mit, um überhaupt feststellen zu können, wie es im Projekt aussieht und was gerade gebraucht wird. Agil fordert cross-funktionale Teams, bei DevOps wird die Brücke in den Betrieb geschlagen. Das Team ist eigenverantwortlich. Es trägt die Verantwortung selbst. Nicht der Projektleiter, nicht der Teamleiter, nicht der Senior Architect und nicht der Technical Lead. Und wenn alles angepasst werden kann, und alle Entscheidungen vom Team ausgehen, bilden Positionen und Titel da eine Ausnahme? Alles darf angepasst werden, nur die Titel und Positionen nicht? Das Team darf entscheiden und ist verantwortlich, ausser da ist ein Technical Lead, ein Architect oder ein Team Lead?”
Johann-Peter hat damit natürlich vollkommen recht und diese Frage ist genial. Sie zeigt, dass man am Ende auch die eigene Organisation hinterfragen muss. Doch wie wirkt das nach außen? Findet man Entwickler oder Consultants, wenn man nicht explizit nach z.B. „Senior Consultants“ sucht? Ich denke, das ist schwer und das schreibt er auch: „Und dann kommt die Irritation. Denn sie (die Bewerber) wollen Teamleiter, C*O, irgendwas mit Personalverantwortung, Head of *, * Lead oder Senior Architect werden. Auf gar keinen Fall einfach nur Developer. Nein, ein Titel muss her, man will ja die eigene Leistungsfähigkeit in der Karriere abgebildet sehen. Tja, und damit können wir – und viel wichtiger wollen wir – gar nicht dienen. Weder die HR-Abteilung noch die Geschäftsführung kann Leute auf Positionen einstellen oder einen Titel vergeben. Denn die existieren bei uns nicht mehr.”
Diese Idee, dass es keinerlei Positionen mehr gibt und dass es sich natürlich auch auf die Stellenanzeigen auswirkt, ergibt Sinn. Aber Moment … jemand vergibt die Jobs und wählt aus. Der Gesetzgeber verlangt zum Beispiel bei einer GmbH einen Geschäftsführer, der im Interesse der Gesellschaft handelt und möglicherweise sogar die Interessen der Gesellschaft gegen die Interessen der Gesellschafter abwiegt. Er ist also mit Leib und Seele gesetzlich in der Position der Gesamtverantwortung gebunden, ob er das nun persönlich will oder nicht.
Real existieren mehrere Konflikte, die diesem Gedanken auf den ersten Blick widersprechen:

  1. Die Bilder im Kopf der Mitarbeiter
  2. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen
  3. Die gelernten Reflexe von Mitarbeitern und Management
  4. Das Umfeld, in dem diese Firmen arbeiten – denn die Kunden wollen oftmals mit dem Senior XY arbeiten.
  5. Die Gesellschafter/das Board – wollen die auch agil?

Nun kann man solche Überlegungen natürlich als Fatamorgana abtun und entgegenhalten: “Das ist altes Denken, traditioneller Quatsch!“ Doch Phänomene weisen uns immer auf etwas hin: Dass da etwas ist – ein zugrunde liegendes Bedürfnis, ein tief sitzender Faktor, der immer mitschwingt und vielleicht erst überwunden werden muss.
Ich kann nur von meinem eigenen kleinen Unternehmen erzählen, denn auch bei uns sind Aufstieg und Verantwortung, Gehaltserhöhungen, Selbst- und Fremdwahrnehmung immer wieder ein Thema. Warum eigentlich? Wir sind “leading edge“ im agilen Umfeld. Wir wissen, was agile Führung bedeutet und wohin der Zug fahren sollte. Wieso straucheln auch wir immer wieder? Ist es, wie ich dem Gespräch mit einem Professor der Psychologie entnommen habe, die Sozialisation? Haben uns die Gesellschaft, Schule, Familie (soziologisch gesprochen: die Institutionen) so geprägt?

Wenn die Graugans in uns schnattert

Ich vermute, die tieferliegende Ursache hinter alledem ist das Thema Rang = Status. Soziale Wesen wollen wissen, in welchem Verhältnis sie zu den anderen stehen – also auf welcher Rangstufe. Das mag jetzt zu simpel sein: Konrad Lorenz war der erste, der das am Verhalten von Graugänsen gezeigt hat. Sofern mich die Erinnerung an meine Biologie-Schulstunden nicht täuscht, arbeitete er heraus, wie wichtig die Hackordnung in sozialen Verbänden ist. Schaut man sich die neueren Erkenntnisse der Neurologie an, so ist genau der Status für uns alle immer ein Thema. Status ist wichtig, weil wir uns in sozialen Verbänden nur dann sicher fühlen, wenn wir wissen, wo wir stehen. Die bereits von Lorenz beschriebenen Phänomene sind u.a. Ausdruck dessen, dass etwas in uns nach Status (Rang, Titel usw.) strebt. Wir alle wollen Auszeichnungen, wir wollen Preise gewinnen und uns von der Masse abheben, Rangkämpfe sind „normal“ und gehören dazu. Sie sind nicht etwa Ausdruck von Machtgier, sondern entstehen aus dem Bedürfnis nach Sicherheit in der Gruppe. Alle, nicht nur „agile“ Teams, erleben diese Suche nach dem Platz in der Gruppe als Verunsicherung in der Storming Phase. Als Wissenschaft ist die Soziologie entstanden, um den Menschen aus der Unmündigkeit der nicht verstandenen Herrschaftsbeziehungen zu befreien. Soziobiologisch sind wir aber in diese Statuskämpfe hineingezwungen und vieles in unserem menschlichen Verhalten lässt sich tatsächlich auf diese Instinkte zurückführen. Aber sind wir ihnen ausgeliefert? Nur dann, wenn wir sie nicht erkennen und uns nicht von ihnen befreien.

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Agilität ist eine bewusste Entscheidung

Agiles Arbeiten ist u.a. der Versuch, sich dieser Instinkte bewusst zu werden und immer und immer wieder dagegen anzugehen, um die menschliche Natur zu kultivieren.
Die Beispiele, die in „Reinventing Organizations“, in meinem Buch „Selbstorganisation braucht Führung“ und auch im Blogbeitrag von Johann-Peter Hartmann zu lesen sind, schüren die Hoffnung, dass Menschen in Teams und Organisationen beginnen, diese Zusammenhänge zu verstehen und sich immer wieder bewusst gegen das Eingefahrene entscheiden. Das ist extrem anstrengend für alle Beteiligte. Aber Verhalten lässt sich ändern, auf unterschiedliche Weise. Es beginnt mit dem Glauben daran, dass dieses andere Verhalten für alle befreiender ist und uns glücklicher, gesünder und erfolgreicher macht. Diese bewusste Entscheidung ist es, die uns in die Richtung des agilen Managements führen wird.
Ich finde es toll, dass es Mayflower gelungen ist, die Titel intern abzuschaffen. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir in den kommenden Jahren noch öfter solche Artikel von verschiedenen Unternehmen lesen könnten. Ein Beispiel habe ich noch: Seht euch mal die Firma liip.ch an. Gerhard Andrey hat bei der BWI Fachtagung in Zürich wunderbar erklärt, wie sie es in ihrem Unternehmen umgesetzt haben. Er erzählte über Open Source, über Teams und die Guilds (für die man sich u.a. bewerben muss). Toller Vortrag.
Übrigens: Beim nächsten Treffen des Software Forums Leipzig im November werden wir das Thema Führung und Selbstorganisation beleuchten und miteinander diskutieren. Vielleicht macht ihr mit?

Geschrieben von

bgloger-redakteur bgloger-redakteur

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3 Antworten zu “Gibt es ein Leben nach dem Jobtitel?”

  1. Vielen Dank für diesen guten Überblick und Ihre Analyse zum Thema. Ganz so einfach ist es eben doch nicht, wie es auf den ersten Blick erscheint. Radikale Veränderungen des Führungssystems machen immerhin den Blick frei für das, was sonst noch geändert werden muss 🙂 Es ist und bleibt ein Paradigmenwechsel, der schon sehr lange besteht.

  2. Danke für die Gedanken! (Und danke für den Verweis auf LIIP, ich/wir gehören zum Fanclub. Wir haben mal einen gemeinsamen Offsite mit ihnen gemacht, der ganz hervorragend war.)
    Zu den Punkten die Du aufwirfst würde ich gerne unsere Erfahrungen ergänzen, wie beim Blogartikel ohne Anspruch auf Generalisierbarkeit:
    Die Titelabschaffung war nicht Leitungs- oder Coach-getrieben, sondern wurde von einem Team von sich aus ausprobiert und für gut befunden. Die anderen Teams hier in München sind dann gefolgt. Und das ganze hat seine Zeit gedauert: Die interne Wiki-Seite “Ich verzichte auf meinen Titel” mit den Unterschriften von ca 70% der Kollegen ist über 2 Jahre alt.
    Zu Deinen Fragen:
    – Die Bilder im Kopf der Mitarbeiter
    Ja, haben die Kollegen auch explizit und viel diskutiert. Ich brauche etwas um meine Fähigkeiten anerkannt zu sehen. Unser Peer Review Bogen dient zB dazu, der hat keinerlei Performance- oder Gehaltsrelevanz, stellt aber eine glaubwürdige Anerkennung dar.
    – Die gesetzlichen Rahmenbedingungen
    Gesetze kommen aus dem complicated-Quadranten, leiden unter Kontrollillusion und wollen uns nur ärgern ;-). Aber im Ernst: das ist Basiskriterium, das muss als GmbH geliefert werden, selbst bei OOSE haftet der genossenschaftliche Vorstand am Ende.
    – Die gelernten Reflexe von Mitarbeitern und Management
    Wir haben vor etwa 3 Jahren mal firmenweit den Core Culture Questionnaire ausgefüllt. IMHO klappt das nur wenn Culture + Cooperation schon dominant sind.Jm2c.
    – Das Umfeld, in dem diese Firmen arbeiten – denn die Kunden wollen oftmals mit dem Senior XY arbeiten.
    Ja, zum Kunden kommunizieren wir die “passenden” Titel in der Kundenwelt, die den Kollegen die beste Kooperation mit dem Kunden ermöglichen. Das wechselt nach Kunde und Projekt.
    – Die Gesellschafter/das Board – wollen die auch agil?
    Da haben wir Glück, das gilt für unsere drei Gesellschafter. Die wollen alle agil, nur oft unterschiedlich 🙂
    Viele Grüße
    Johann
    PS: Ich kann beide Bücher uneingeschränkt empfehlen, die helfen uns in unserer täglichen Arbeit. Ich würde Niels Pflaegings Organisation für Komplexität und Gerhard Wohlands Denkwerkzeuge ergänzen wollen.

  3. Wolfgang Göbl sagt:

    Nein das Thema ist ein anderes. Es ist ein völlig illusorische Vermutung von agilen Ansätzen dass Teammitglieder Generalisten sind. Natürlich würde ich mir in einem Team wünschen dass jeder alles kann/macht. Genauso wie Diktatur die ideale Regierungsform wäre wenn der Diktator gütig, allwissend und nur auf das Wohl des Volkes bedacht wäre. Hat aber noch nie funktioniert. Geht nicht weil ein Mensch das nicht kann.
    Die Skills die man in einem Software Projekt braucht sind extrem breit – Sehr gute Kommunikationsfähigkeiten auch mit dem Top Management, Visionsfähigkeit, Grafische Gestaltung der UIs, Genauigkeit z.B. für die Konzeption von Migrationen, Abstraktes Denken beim Programmieren, die Freude am Finden von Fehlern beim Test etc. Ich behaupte mal dass es nur ganz ganz wenige Menschen gibt die kreative Visionäre sind UND gleichzeitig genau genug um Detailanalysen zu machen und Detailtests zu machen.
    –> Es ist gut wenn durch Scrum ganz interessante Ansätze in die Software Entwicklung kommen, Scrum in der reinen Evangelistenform wie von einer bestimmten Comminity vertreten wird niemals zu besseren Projekterfolgen führen.

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