Remote-Retrospektive mit der Hero’s Journey: ein Erfahrungsbericht

In der Rolle als Agile Coach ist es nur eine Frage der Zeit, bis man vor folgender Herausforderung steht: Das Team sitzt nicht zusammen am selben Ort und braucht eine Retrospektive, die mithilfe von Videotelefonie und Screensharing remote umsetzbar ist. Nun kommt natürlich auch noch der eigene Anspruch dazu: Die Retrospektive soll trotzdem außergewöhnlich sein und das Team zu einer Betrachtung der Zusammenarbeit aus einem anderen Blickwinkel anregen.

Mit einem hochmotivierten und aufgeschlossenen Kundenteam führte ich deswegen eine etwas andere Art der Retrospektive durch – inspiriert durch einen Blogbeitrag von Steffen Hartmann von Mayflower (Retrospektive – The Hero’s Journey).

Die Hero’s Journey im Überblick

Bei dieser Variante der Retrospektive betrachten die Teammitglieder ihre bisherige Zeit im Projekt als eine Heldenreise. Diese umfasst zwölf verschiedene Etappen – beginnend beim Leben als „Normalo“ über das Meistern von Herausforderungen bis hin zur Transformation zu einer neuen Persönlichkeit. Der selbst gestaltete Held ist dabei eine Abstraktion eigener und fremder Wünsche sowie Sorgen im Team. Die Teammitglieder können so geschützter als in einer klassischen Retrospektive auch diejenigen Punkte thematisieren, die sie aus der Ich-Perspektive heraus vielleicht nicht ansprechen würden.

Vor allem bei dezentralen Teams, die nur über Videotelefonie kommunizieren können, beschränken sich klassische Retrospektiven tendenziell auf ein oberflächliches Abarbeiten der üblichen drei Fragen:

  • Was lief gut?
  • Wo haben wir Verbesserungspotential?
  • Welche Maßnahmen leiten wir ab?

Genau diesen immer gleichen Ablauf wollte ich verhindern. Wie ich dabei vorgegangen bin, möchte ich im Folgenden veranschaulichen.

1. Das Team vorbereiten

Um die Bereitschaft im Team für die doch eher ungewöhnliche Retrospektive zu erhöhen, versuchte ich zunächst, die Teammitglieder mental darauf vorzubereiten. Dazu stellte ich nach dem Daily einfach vorab die Frage: „Hättet ihr Lust auf ein Experiment bei der Retrospektive?“ Glücklicherweise schreckte dieses Team vor keinem Abenteuer zurück und schon kam das Commitment für die etwas andere Retro.

2. Vorbereitung der Hero’s Journey für eine Remote-Retrospektive

Damit die Retrospektive des dezentralen Teams in der vereinbarten Zeit von 90 Minuten durchführbar war, musste ich diese entsprechend anders vorbereiten als im genannten Blogbeitrag von Steffen Hartmann beschrieben. Die Entscheidung fiel auf ein PowerPoint-Format. Dafür habe ich die SAP-Scenes-Figuren einzeln in PowerPoint kopiert und bereits vorab alle Sprechblasen und Felder eingefügt, die in der Retrospektive abgefragt werden sollten.

Fragen für Retrospektive

Abbildung 1: Fragen für die Retrospektive

Insgesamt konnten die Teammitglieder zwischen neun verschiedenen Charakteren wählen, die in SAP Scenes zur Verfügung standen. Der Grund ist einfach nachzuvollziehen: Nicht jeder kann sich mit einem Superhelden mit Krawatte identifizieren. Um eine klare Ausgangslage zu schaffen, habe ich außerdem die Etappen der Hero’s Journey als erste einleitende Folie in die PowerPoint-Präsentation eingefügt:

Hero's Journey

Abbildung 2: die Hero’s Journey

Die Teammitglieder bekamen die vorbereitete Präsentation noch nicht vor, sondern erst während der Retrospektive. Sie wurden aber rechtzeitig informiert, dass sie jeweils einen Laptop zum Termin mitnehmen sollten.

3. Der spannende Teil: die Durchführung

Nun war es so weit. Das Experiment konnte beginnen. Nach einem kurzen Check-in per Video-Konferenz bedankte ich mich beim Team, dass es so offen für diesen Versuch war. Bevor ich die PowerPoint an alle Teammitglieder weiterleitete, erklärte ich in ein paar einleitenden Worten, warum ich mich für dieses Format entschieden habe. Aus meiner Sicht bietet es mehrere Vorteile.

Die Hero’s Journey:

  • ermöglicht einen anderen Blick auf die Erfolge und Herausforderungen seit der letzten Retrospektive – diese lag in unserem Fall immerhin über zwei Monate zurück.
  • macht schwierige Themen durch die Abstraktion leichter zugänglich.
  • präsentiert bekannte Themen erfrischend anders.
  • fördert die Kreativität im Team.
  • gestaltet die Remote-Retrospektive als tiefgründige Konversation.
  • macht Spaß und stärkt dadurch das Teamgefühl.

Wie von Steffen Hartmann empfohlen zeigte ich nun das Video der Hero’s Journey.

Bevor es an die Arbeit ging, gab es noch ein paar letzte Hinweise:

  • Der Held muss nicht die konkrete Person dahinter widerspiegeln. Er ist einfach ein Charakter, der die Reise seit der letzten Retrospektive durchlebt hat.
  • Der Held kann eigene Wünsche, Meinungen und Sorgen vertreten oder aber auch die eines Teamkollegen oder eines komplett fiktiven Charakters.
  • Der Held sagt all das, was zum Projekt und zur Zusammenarbeit gesagt werden muss – ohne Angst vor Konsequenzen.
  • Der Held achtet auf die in Abbildung 1 unter Punkt 3 dargestellten Sprech- und Gedankenblasen:
    • Was möchte der Held nach seiner Reise sagen?
    • Welche Ideen hatte er?
    • Was hat ihn während seiner Reise wütend gemacht?

Anschließend bekamen alle Teammitglieder die Präsentation per E-Mail und sollten die Fragen innerhalb von 15 Minuten beantworten.

4. Das Ergebnis

Nach Ablauf der Timebox schickte jedes Teammitglied die ausgefüllte PowerPoint-Folie von seinem Helden an mich zurück. Anschließend stellte einer nach dem anderen seinen Charakter vor. Da ich den Bildschirm teilte, wussten die zugeschalteten Teammitglieder immer genau, über welchen Charakter wir gerade sprachen.

Ich zeige in diesem Beitrag bewusst keine Original-Beispiele eines Helden, weil meiner Meinung nach gilt: Was in der Retrospektive passiert, bleibt in der Retrospektive. Stattdessen eine von mir zusammengestellte Form zur Veranschaulichung, die Teile der Wahrheit beinhaltet:

Antworten Retrospektive

Abbildung 3: die Antworten des fiktiven Helden Rubyman

Beim fiktiven Rubyman handelt es sich um einen erfahrenen Entwickler, der die Programmiersprache Ruby in Perfektion beherrscht. Seine Aussage „Nobody wants me“ rührt daher, dass das Unternehmen keinen entsprechenden Entwickler für das Team einstellen möchte. Also ist Rubyman ein Held, der dem Team aktuell noch fehlt, um die bevorstehenden Herausforderungen erfolgreich zu meistern.

Meine Aufgabe als Agile Coach war es dabei, zwischen den Zeilen zu lesen. Ich notierte die Erfolge und Herausforderungen auf Post-its und stellte sie dem Team im Anschluss vor. Wir wählten daraufhin zwei Maßnahmen aus, die wir im nächsten Sprint umsetzen wollten.

Das Fazit des Experiments

Das war definitiv eine etwas andere Retro, aber für das Team war es durchaus erfrischend. Das Teammitglied, das Rubyman vorgestellt hat, sagte ganz begeistert: „Endlich thematisiere nicht mehr nur ich, dass wir einen erfahrenen Entwickler benötigen, sondern Rubyman macht das selbst“. Wir haben viel gelacht und über die Kreativität im Team gestaunt. Als Moderator konnte ich auch sehr viel aus den Stärken, Schwächen und Aussagen der Helden über die aktuelle Stimmung im Team herauslesen, wodurch ich die Teammitglieder schließlich zielführender und individuell unterstützen konnte.

 

Titelfoto von Fredrick Kearney Jr auf Unsplash
Figuren von SAP Scenes

Geschrieben von

Sabina Lammert Sabina Lammert

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