„Das ist ja nur für intern“ – Der vernachlässigte Nutzer

16 Stunden für einen Workshop, um die Zusammenarbeit mit der deutschen Zentrale zu verbessern. Das ist viel Zeit, wenn man nicht weiß, was dabei herauskommen soll. Kein Wunder also, dass die Kolleginnen und Kollegen in der Londoner Niederlassung anfangs skeptisch waren. Aber der feine Unterschied zu anderen Konzernmeetings war eine einfache Geste der Wertschätzung: Diesmal mussten sie nicht nach Deutschland reisen, sondern ein Team aus dem Hauptquartier würde zu ihnen kommen. Der Workshop wurde zum Erfolg. Das Erfolgsrezept: Der interne Nutzer steht im Fokus.

Die Vorgeschichte

Es begann als Experiment für den Konzern und für mich als Scrum-Berater: Ein crossfunktionales Marketingteam bekommt ein fixes Budget und ein halbes Jahr Zeit, um die Marketingmaßnahmen zu hinterfragen und einmal alles ganz anders zu machen. Die vier Teammitglieder kommen aus den verschiedenen Marketingabteilungen des Konzerns, dem digitalen Marketing, der direkten Kundenkommunikation und zwei Key-Account-Managements (dazu gehören z.B. regionale Märkte). Bisher hatten sie im Hauptquartier die Kommunikationsmaßnahmen entwickelt und an die Niederlassungen weitergegeben, nach dem Motto: One size fits all.

Das Vorgehen

Meine größte Herausforderung als Berater war, dem Team Mut zu machen und ihm zu vermitteln: „Es ist wirklich ok, wenn ihr die Dinge anders macht und euch von euren normalen Verfahrensweisen vollkommen löst.“ Wir fünf einigten uns darauf, kleine Experimente zu wagen. Es begann mit der Frage: Wer sind eigentlich unsere Nutzer? Die Teammitglieder haben das One-size-fits-all-Prinzip auf den Kopf gestellt und die Nutzer der Marketingmaßnahmen direkt kontaktiert, die Niederlassungen. Dann haben sie, anstatt ihre Nutzer in die Zentrale zu zitieren, sie vor Ort in ihrem eigenen Umfeld besucht. Damit hat mein Team seine Wertschätzung und aufrichtiges Interesse gezeigt. Es hat eine neugierige, ergebnisoffene Haltung eingenommen und den Servicegedanken gelebt.

Die folgenden vier Faktoren des Gelingens haben den Teammitgliedern dabei geholfen, eine neue Basis für die Zusammenarbeit zwischen „Team aus der Zentrale“ und den regionalen Niederlassungen zu finden.

Die vier Faktoren des Gelingens

1. Wertschätzend kommunizieren

Für jeden der Teilnehmenden war es ein Zeichen großer Wertschätzung, dass das Projektteam aus dem Hauptquartier sich auf den Weg in die Schweiz, die Niederlande und nach Großbritannien gemacht hat, um in einem zweitägigen Workshop herauszuarbeiten, wo die individuellen Unterschiede und Herausforderungen der jeweiligen Märkte liegen.

2. Von Erfahrungen lernen

Gemeinsam bereiteten mein Team und ich die Workshops vor, um innerhalb der vereinbarten zwei Tage gute Arbeitsergebnisse zu erzielen und genau das herauszufinden, was für die weitere Arbeit von Bedeutung ist. Ein Punkt auf der Agenda waren die Berichte der Marktvertreterinnen und -vertreter darüber, welche erfolgreichen Maßnahmen sie schon unternommen hatten und warum diese erfolgreich waren. So konnten wir lernen und neue Ideen für die anderen Märkte generieren. Wir schufen Synergien zwischen den Regionen, ohne das Rad neu zu erfinden.

3. Mit dem internen Nutzer zusammenarbeiten

Ich machte ein Intro zu agilen Methoden und Werten, aber im Fokus stand die Zusammenarbeit. Wir ließen die Vertreter und Vertreterinnen der Regionen unsere vorbereitete Persona (den Beispielkunden, den wir uns vor Augen halten) überprüfen und klärten, ob diese Persona für den jeweiligen Markt zutrifft. Für die Schweizer war die Persona zum Beispiel zu protzig. Ihre Persona hat zwar genug Geld, um sich das Produkt leisten zu können, aber das soll nicht auffallen. Es kamen gleich neue Aufgaben für das Marketingteam auf, die wir ins Backlog aufnahmen. Gemeinsame User Stories wurden entwickelt, damit wir direkt nach dem Workshop weiterarbeiten konnten. Das war ebenfalls ein schönes Ergebnis unseres Experiments: Sowohl mein Team als auch die Kolleginnen und Kollegen vor Ort haben die User Stories entwickelt und sich zum Abschluss des Workshops welche gezogen, um daran zu arbeiten.

4. Ergebnisoffen sein

Schon allein wegen der zeitlichen und budgetären Grenzen hatten wir natürlich eine grobe Idee, was wir mit dem Projekt erreichen wollten. Aber auf keinen Fall wollten wir bei den Regionen mit einem unflexiblen Projektplan auftreten. Im Gegenteil: Die Vertreter und Vertreterinnen vor Ort kennen ihre Märkte und den Vertrieb besser, als das eine Person aus der Konzernzentrale jemals kann. Deshalb stützten wir uns auf die Expertise der internen Nutzer und erarbeiteten die nächsten Schritte erst mit ihnen und nicht schon vorher.

Das Experiment geht weiter

Dieses Projekt wird erfolgreich sein, weil mein Team einige der elementarsten Prinzipien von Scrum lebt: die Interaktion mit dem Nutzer, das Einholen von Feedback und den Wunsch, immer mehr zu lernen. Es hat etwas geschafft, was selbst im agilen Kontext nicht selbstverständlich ist: Es hat den internen Nutzer in den Fokus gerückt.

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Bild: Unsplash License, Marten Bjork

Geschrieben von

Moritz Müller Moritz Müller Für Moritz Müller ist Agile das erste Konzept, in dem das Lernen aus Fehlern nicht nur eine leere Worthülse ist, sondern tatsächlich eminenter Bestandteil. Er ist der Ansicht, dass eigentlich alle Menschen nach diesem Ansatz arbeiten sollten – gemeinsam im Team unter Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten, eigenverantwortlich und selbstorganisiert. Seinen Schwerpunkt als Consultant sieht er daher auch im Empowerment der Mitarbeitenden und Kunden. Moritz hat Freude daran, Menschen zu befähigen, sich weiterzuentwickeln. Sein besonderes Interesse gilt dabei der öffentlichen Verwaltung, in der er großes Potenzial für die Einführung von agilen Methoden sieht. Der Veränderung begegnet er selbst zunächst zurückhaltend, weil er sich gerne erst einen Überblick verschafft. Durch diese reflektierte Herangehensweise gelingt es ihm, sich und seine Umgebung auf das vorzubereiten, was kommt.

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