Der agile Baum als Orientierungshilfe im Dschungel der agilen Begrifflichkeiten

Ein Beitrag von Carsten Rasche & Constanze Rieß

Die Startphase in der Auseinandersetzung mit agilen Methoden kann schnell zu einer überfordernden Erfahrung werden. Es gibt eine Vielzahl von agilen Frameworks wie Scrum, Kanban, Design Thinking oder Lean Start-up. Jedes Framework hat seine eigenen Praktiken, Prinzipien und Werte. Die Anzahl neuer Begrifflichkeiten ist groß.

In unserer Arbeit begegnen wir Menschen mit unterschiedlichem Vorwissen in Sachen Agilität: Manche haben sich bereits intensiver mit einer Methode auseinandergesetzt und fragen sich vielleicht, wie diese in Beziehung zu einer anderen Methode steht. Andere haben einzelne Begriffe aufgeschnappt. Was oft fehlt, ist das Verständnis des groben Zusammenhangs zwischen Begriffen und Methoden. Statt einem Bild davon, was Agilität umfasst, herrscht Wirrwarr.

Um hier Orientierung zu schaffen, stellen wir die Zusammenhänge gerne mithilfe eines Baumes dar. Dieser Baum eignet sich zum Beispiel dafür, mit einer Gruppe von bis zu 30 Personen ein gemeinsames Bild davon zu erzeugen, was Agilität bedeutet.

Das erste Mal haben wir den agilen Baum bei einem Trainertreffen von bikablo® „wachsen lassen“. Wie wir dabei vorgegangen sind und welche Inhalte sich hinter den einzelnen Bereichen des Baums verbergen, veranschaulichen wir in diesem Blogbeitrag.

Eins noch vorab: Der Baum erhebt natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern ist, wie jedes agile Artefakt, eine Visualisierung gemeinsamen Kontextes als Einladung zu weiterer Konversation.

Der agile Baum im Überblick

Der agile Baum, eine Verortung von agilen Werten, Prinzipien, Frameworks und Praktiken. In Einführungsworkshops fragen wir die TeilnehmerInnen, was sie bereits über Agilität wissen, und ordnen die Begrifflichkeiten dem jeweiligen Bereich zu.

In der Baumkrone befinden sich agile Praktiken. Das sind konkrete Werkzeuge, wie zum Beispiel eine Definition of Done, User Storys oder eine Persona. Sie entstammen meist aus einem der agilen Frameworks, wo sie genauer beschrieben werden. In der Praxis werden in der Regel mehrere dieser Werkzeuge kombiniert und die Teams suchen sich die Praktiken heraus, die zu ihrem aktuellen Kontext passen. Praktiken helfen Teams, Agilität handhabbar und ausführbar zu machen. Sie sind eine Sammlung von Good Practices, die Teams beim iterativen Entwickeln von Produkten helfen. Praktiken können zudem wie Kirschen einzeln vom Baum gepflückt und eingesetzt werden und auch unabhängig vom Einsatz ganzer Frameworks Nutzen stiften.

Unterhalb der Baumkrone gibt es den Bereich der agilen Frameworks. Die Frameworks fassen verschiedene Praktiken zu einem genauer beschriebenen Vorgehensmodell zusammen. Das Scrum-Framework besteht beispielsweise aus dem Ineinandergreifen bestimmter Rollen, Meetings und Artefakte und ist dadurch viel mehr als die situative Kombination verschiedener Praktiken.

Wie bereits erwähnt haben viele der einzelnen Praktiken ihren Ursprung in einem der großen Frameworks. Die Arbeit mit Taskboards kommt beispielsweise aus dem Lean Management und die Arbeit mit User Storys aus dem Extreme Programming. Interessant ist, dass die beiden Praktiken so gut funktioniert haben, dass sie im Zuge der Weiterentwicklung von Scrum auch Teil des Scrum-Frameworks geworden sind.

Im und um den Baumstamm sind die agilen Prinzipien wie Face-to-face-Kommunikation, Kundenzentrierung und Selbstorganisation zu finden. Die Prinzipien dienen Teams als konstante Erinnerung daran, was wichtig für die eigene Zusammenarbeit und die Organisation ist. Der Baumstamm dient hier auch als gute Metapher. Wenn die Prinzipien nicht eingehalten und gelebt werden, kann man zwar einzelne agile Praktiken verwenden. Sie werden aber nicht ihre volle Wirkung entfalten, weil die solide Grundlage dazu fehlt. Ein Team kann mit den schönsten Scrum Boards arbeiten und dennoch das Prinzip Kundenfokussierung komplett missachten, indem beispielsweise kein Feedback eingeholt wird. Die Zusammenarbeit im Team kann in dem Fall als extrem positiv wahrgenommen werden. Das entwickelte Produkt erfüllt am Ende aber womöglich nicht seinen Zweck.

Die Wurzeln des Baums bilden die agilen Werte. Die Werte sind der Nährboden und die Basis für die Prinzipien und Praktiken. Werte sind für Gruppen grundsätzlich als wünschenswert anerkannte Vorstellungen, die Menschen Orientierung geben. Im agilen Kontext beschreiben die Werte eine gemeinsame Grundhaltung, auf die sich die Beteiligten für ihre Arbeit einigen. Bei den ersten Berührungspunkten müssen MitarbeiterInnen und deren Organisationen miteinander aushandeln, ob und wie sie die Werte leben wollen. Der gemeinsame Aushandlungs- und regelmäßige Reflexionsprozess ist dabei das Entscheidende.

Die ursprünglichen vier Wertepaare stammen aus dem Agilen Manifest:

Individuen und Interaktionen stehen über Prozessen und Werkzeugen
Funktionierende Software steht über einer umfassenden Dokumentation
Zusammenarbeit mit dem Kunden steht über der Vertragsverhandlung
Reagieren auf Veränderung steht über dem Befolgen eines Plans

Scrum fußt auf den fünf Werten Fokus, Mut, Offenheit, Respekt und Commitment. Die Werte dienen Teams und Organisationen als Reflexionsinstrument. Die Leitfrage ist: „Werden die Werte gelebt? Und wenn nicht, was können wir tun?“ Eine kontinuierliche Betrachtung und Reflexion der Werte – beispielsweise in Retrospektiven – unterstützt die nachhaltige Anwendung von Scrum.

Ein weiteres Beispiel für einen agilen Wertekanon findet sich bei Kanban. David Anderson ist davon überzeugt, dass Kanban nur erfolgreich ist, wenn die Anwender aus der Überzeugung der Werte agieren (1). Die neun Kanban-Werte sind Transparenz, Balance, Kollaboration, Kundenfokus, Arbeitsfluss, Führung, Verständnis, Vereinbarung und Respekt.

Agiles Mindset beschreibt die innerste Einstellung und Überzeugung, die Menschen bei ihrem beruflichen Handeln antreibt. Im Vergleich zu den Werten, die von der Gruppe gelebt werden, ist das Mindset eine persönliche, innere Einstellung. Personen, die ein agiles Mindset verinnerlicht haben, kann man als lösungsorientierte Personen beschreiben, die in ihrem Umfeld alles dafür tun, dass sie sich selbst und die Strukturen, in denen sie sich bewegen, weiterentwickeln. Sie schrecken nicht vor bestehenden Hierarchien zurück und haben Mut, auch mal provokative Lösungen auszuprobieren. Grundsätzlich ist ein solches Mindset nicht einfach da. Es erfordert Arbeit und Reflexion, um es zu entwickeln. Der Einzelne prägt das Unternehmen. Agile Organisationen zeichnen sich dadurch aus, dass es in ihnen viele Personen gibt, die so handeln.

Auf der vertikalen Ebene hat der Baum noch eine Achse: Sie geht vom Pol Being Agile, der bei Mindset und den Wurzeln startet, bis hin zu Doing Agile in der Baumkrone und bei den Praktiken. Die Metapher des Baums verdeutlicht, dass die Wurzeln des Baumes – das agile Mindset und die Werte – die Grundlage von agilem Arbeiten bilden. Sie machen den Kern aus. Wenn Individuen und Teams versuchen, nach dem agilen Mindset und den Werten zu handeln, ist es fast egal, welche Prozesse und Praktiken sie anwenden. Sie werden über die Zeit zu den für sie richtigen Elementen kommen.

In der Agile Community wird die reine Anwendung von agilen Praktiken und Prozessen ohne die Berücksichtigung des dahinterliegenden Kerns auch als Fake Agile oder Cargo Cult bezeichnet.

Es ist aber nicht falsch, agile Praktiken und Prozesse wie aus dem Lehrbuch auszuprobieren, ohne von Beginn an genau zu wissen, was agiles Mindset bedeutet und damit einige der Werte zu missachten. Wir ermutigen unsere Kunden, je nach Bedarf und Situation, beispielsweise Scrum in seiner Reinform auszuprobieren. Dadurch findet eine wichtige Kontextveränderung statt. In einem Team funktionieren Dinge auf einmal nicht mehr so wie früher. Auf einmal gibt es einen Product Owner und einen ScrumMaster sowie eine Reihe von Meetings, in denen jedes Teammitglied gleichberechtigt ist. Über das Ausprobieren, das Fehlermachen und das Weiterentwickeln der Praktiken und Prozesse beispielsweise in Retrospektiven stoßen Teams darauf, was Being Agile bedeutet. Being Agile bedeutet Anpassungsfähigkeit. Die Prozesse und Praktiken werden auf den eigenen Kontext adaptiert. Agilität breitet sich organisch aus, wird weiterentwickelt und über die Zeit von einer größeren Anzahl an Personen verstanden.

So könnt ihr die Methode in einer Workshop-Einheit verwenden

Was ihr dafür braucht

  • Idealerweise eine große Moderationswand, bespannt mit einem Papier. Bei kleineren Gruppen könnt ihr auch mit einem Flipchart oder einem Whiteboard arbeiten.
  • Einen schwarzen Marker und ein paar Farben
  • Mindestens 45 Minuten Zeit

Vorbereitung

  • Zeichnet die Grundstruktur des Baums mit den fünf Bereichen Mindset, Werte, Prinzipien, Frameworks und Praktiken auf die Moderationswand und koloriert die einzelnen Bereiche. Am Rand könnt ihr noch eine horizontale Achse unterbringen, die von Doing zu Being verläuft. Tipp: Achtet darauf, dass ihr genügend Platz neben den Wörtern lasst, damit ihr dort später Stichpunkte sammeln könnt.
  • Integriert die Moderationswand in einen Stuhlkreis für die TeilnehmerInnen.

Durchführung

  • Startet mit einer offenen Frage wie: „Welche Begriffe aus dem Bereich Agilität kennt ihr bereits?“
  • Nun berichten die Teilnehmer reihum kurz von ihren Erfahrungen.
  • Befüllt den agilen Baum dabei nach und nach mit den genannten Schlagworten, die ihr in die entsprechenden Bereiche des Baumes eintragt.
  • Je nach Bedarf der Gruppe bietet es sich an, nun einzelne Begriffe ausführlicher zu erklären.
  • Erklärt die Struktur des Baumes und die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Bereichen. Das funktioniert sowohl von oben nach unten (wie in diesem Artikel) als auch von unten nach oben.
  • Zum Ende der kurzen Session haben wir die TeilnehmerInnen gefragt, mit welchen Themen sie sich in Zukunft gerne intensiver auseinandersetzen wollen.

Die Anzahl der agilen Praktiken, Frameworks und Methoden ist groß. Falls ihr Anregungen braucht, womit der agile Baum gefüllt werden könnte, empfehlen wir euch den Talk von Craig Smith 40 Agile Methods in 40 Minutes und eine dazu erstellte Grafik von Lynne Cazaly.

Wir wünschen euch viel Erfolg beim Verwenden des agilen Baums und beim Schaffen eines gemeinsamen Bildes von Agilität und freuen uns, wenn ihr eure Erfahrungen mit uns teilt!

Lust auf eigene Artefakte aus Papier – aber du kannst doch gar nicht zeichnen? Das ändern wir binnen zwei Tagen im Agile Sketching Training.

Mehr Storys aus der Visualisierungs-Praxis und mehr Beispielbilder? Gibt’s hier auf youtube.

Ein hilfreiches Template des agilen Baumes kannst du dir hier downloaden: 

Literatur:

(1) Anderson, D.J., & Carmichael, A. (2016). Essential Kanban Condensed. Blue Hole Press.

Titelbild: Agile Sketch von Karin Hofmann in Anlehnung an Constanze Rieß’ Vorlage
Gefallen Ihnen unsere Sketches? Agile Sketching ist eine agile Visualisierungstechnik, die man lernen kann. Mehr Infos zum Training gibt es hier.

Geschrieben von

Carsten Rasche Carsten Rasche Seine ersten Erfahrungen mit userzentrierter Produktentwicklung, mit Scrum und Agile hat Carsten Rasche direkt im Silicon Valley gesammelt. Den Arbeitspsychologen fasziniert natürlich, wie sich die konsequente Ausrichtung an den Bedürfnissen der Kund:innen auf die interne Organisation eines Unternehmens auswirkt. Im Zuge von Transformationsprojekten liegt seine Expertise im Bereich Organizational Learning & Coaching von Führungsteams. Neben Kundenprojekten hat Carsten die Initiative Scrum4Schools aufgebaut, welche die Anwendung von Scrum in Bildungseinrichtungen unterstützt. Als ausgebildeter Mediator bringt Carsten Rasche die Fähigkeit ein, in angespannten und komplexen Situationen die Ruhe zu bewahren, nüchtern zu analysieren und dadurch größere Klarheit zu schaffen. Wichtig ist ihm dabei, offen und wertschätzend auf Menschen zuzugehen und eine tragfähige Vertrauensbasis zu schaffen.

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2 Antworten zu “Der agile Baum als Orientierungshilfe im Dschungel der agilen Begrifflichkeiten”

  1. Blue Something sagt:

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