Technik, Raum und Haltung: Die wichtigen Rahmenbedingungen für nachhaltiges Lernen zuhause

Lernen zuhause hieß in der Zeit vor Corona fast immer Lernen für die Klassenarbeiten oder Hausaufgaben. Gerade ist das Lernen zuhause jedoch zu etwas völlig anderem geworden. Die Lehrpersonen mögen im ein oder anderen Fall noch den Schulstoff transportieren und Arbeitsblätter nach Hause schicken, vielleicht gelingt es sogar der ein oder anderen Schule echten virtuellen Unterricht zu machen, doch warum sollte jeder Mathelehrer sein eigenes kleines Video zu den binomischen Formeln machen. Davon gibt es schon hunderte auf Youtube. Gleichzeitig überfordern sich Eltern im Home Office, die neben ihrem Job noch ihre Kinder “homeschoolen”. Dabei zeigen Studien, dass Kinder und junge Erwachsene höhere Lernleistungen und mehr Engagement zeigen, wenn sie sich autonom und freiwillig Wissen aneignen und dabei von Neugierde und den eigenen Interessen gesteuert werden. Der Lernprozess wird von den Kindern intrinsisch selbst gesteuert, Eltern stellen dabei lediglich die Rahmenbedingungen:

Die technischen Rahmenbedingungen

Habe ich Zugang zum Internet, wie ist die Datenrate? Habe ich die richtigen Tools installiert, um auf den Content der Schule zugreifen zu können? Das ist übrigens ein eklatanter Schwachpunkt in der derzeitigen Diskussion zu Homeschooling: Ein Elternhaus mit Geld kann sich die schnelle Internetleitung und den eigenen Laptop und das Tablet für jedes Kind leisten. Doch wie ist es mit denen, die dafür kein Geld haben? Ich würde wahrscheinlich auf Amazon ein günstiges Chromebook kaufen. Es wäre relativ schnell da, ich könnte meine Kinder arbeiten lassen und es in Raten abstottern. Wichtiger ist aber die Internetverbindung. Also schnell beim Provider anrufen und den Tarif entsprechend upgraden.

Die räumlichen Rahmenbedingungen

Wenn mich mein kleiner Bruder nervt, während ich im Wohnzimmer arbeiten muss oder meine Eltern den Fernseher laufen lassen, dann wird das trotz der super e-Learning-App der Schule nichts mit dem Englischlernen. Die Kinder müssen mit ihren Eltern einen Weg finden, sodass jeder zu seinem Recht kommt, gerade wenn man das Haus so gut wie nicht verlassen darf. Das Treppenhaus ist kein geeigneter Ausweichort. Ein eigenes Zimmer erleichtert die Sache, doch für ein Kind, das sein Zimmer mit zwei Geschwistern teilt, ist es nicht einfach. Ein Vorschlag von Pädagogen ist in solchen Fällen, feste Lernzeiten festzusetzen. Ich weiß nicht, ob das gut funktioniert, wenn die Stimmung, etwas zu lernen, zu einem anderen Zeitpunkt kommt als geplant. In unseren Teams funktionieren aber Stillarbeitszeiten gut:  Als Familie könnte man jeden Vormittag von 9 bis 11 zu einer stillen Zeit machen. Mit Schulkindern funktioniert das sicher schon, mit meinem 15 Monate alten Jungen noch nicht so. In der Stillarbeitszeit darf jeder machen, was er möchte, aber eben leise, so wie in der Bibliothek. Dann darf der Staubsauger eben nicht angestellt werden und auch nicht der Mixer. Radio und Fernseher bleiben aus. Wer am Rechner in einer Videokonferenz sitzt, muss den Kopfhörer nehmen und leise sprechen oder doch in den Flur gehen.  Ideen dafür, wie man sich den Raum in der Familie am besten teilt, finden Sie sicher noch viele.

Die richtige Haltung zum Lernen und Lehren zuhause

Aus meiner Sicht gibt es eine Frage, die wir vor der nach der Technologie und dem Raum beantworten müssen:

“Welche Haltung hat das Kind zum Lernen und welche habe ich als Elternteil dazu?”

Die Haltung, die wir als Eltern und Lehrer zum Lernen und zu unseren Kindern haben, bestimmt die Art und Weise, wie wir ihr Lernen fördern oder gar behindern. Fördern können wir die Lernleistungen unserer Kinder und Jugendlichen, wenn

  1. wir dafür sorgen, dass das Lernen vom Lernenden selbstbestimmt ist, damit es wirksamer und schneller wird. Wir kennen das aus unserer eigenen Kindheit: Was uns begeisterte, haben wir mit Leichtigkeit gelernt und noch viele Jahre behalten.
  2. wir auf die Stärken des Einzelnen setzen, also auf das, was dem Kind leichtfällt. Kinder bilden im Laufe der Zeit unterschiedliche Stärken aus. Was sie jetzt noch nicht so gut können, lernen sie möglicherweise ein paar Wochen später mit geeigneten Online-Quellen oder bei der Selbstrecherche im Internet.
  3. wir ihnen einen angstfreien Raum zum Lernen bieten und uns als Eltern klar machen, dass wir den Kindern am besten helfen, indem wir keinen Druck aufbauen, ihnen nicht sagen, was sie alles können müssen, ihnen nicht mit der nächsten Klassenarbeit, nicht mit dem möglichen Versagen drohen, sondern zu ihnen sagen: Das wird schon. Vergiss mal die Klausur und versuch mir stattdessen zu erklären, worum es eigentlich geht. Wenn das noch nicht klappt, dann überlegen wir gemeinsam, was es braucht oder wir versuchen es mit einer praktischeren Anwendung.
  4. sie mit dem Medium lernen, das ihnen liegt. Nicht jedes Medium ist für jedes Kind oder jedes Thema gleich gut geeignet. Für einige ist das Geschichtsbuch die richtige Lektüre, andere lesen lieber einen Krimi über dieselbe Epoche, schauen eine Dokumentation, fragen einen Freund oder nähern sich über ein Hobby dem Thema an. Wenn Ihr Kind Pferde liebt, interessiert es sich vielleicht für die Kulturgeschichte des Pferdes, welche Bedeutung es einmal hatte, wie mit ihm Schlachten gewonnen wurden, wie die Menschen mit Pferden gelebt haben und weshalb es eine Spanische Hofreitschule in Wien gibt.

Sie können noch einen Schritt weiter gehen und es Ihren Kindern selbst überlassen, sich mit den jeweiligen Themen auseinanderzusetzen und zu entscheiden, was sie wann und wie lernen wollen. Vielleicht ist heute der Tag, an dem sie auf Netflix einen Film auf Englisch sehen und morgen der, an dem sie, statt Faust zu lesen, ihn sich als Stück auf YouTube ansehen. Gut wäre es, anschließend das Gesehene mit ihnen gemeinsam zu besprechen, ohne ihnen die eigenen Ideen aufs Auge zu drücken. Sie könnten Fragen stellen wie: Was hast du für dich aus dem Film gelernt? Wie findest du die Figur des Fausts? Welche Figur gefällt dir am besten? Fragen Sie so, als würden Sie Ihren besten Freund zu seinem letzten Urlaub ausfragen. Lernen Sie von Ihrem Kind.

Sie werden sehen, nachhaltiges Lernen zuhause kann Spaß machen und zwar allen in der Familie. Der Schlüssel ist, es nicht allzu ernst zu nehmen und sich in Ruhe und gemeinsam zu überlegen, was für jeden wichtig ist.  

Foto: Pexels License

Geschrieben von

Boris Gloger Boris Gloger Boris Gloger zählt als erster Certified Scrum Trainer weltweit zu den Scrum-Pionieren und ist ein Vordenker für neue Arbeitsformen. Er glaubt nicht nur an Scrum, weil es bessere Produkte in kürzerer Zeit hervorbringt, sondern auch, weil es den Arbeitsplatz in einen humaneren Ort verwandeln kann. Boris ist Unternehmensberater, Autor, Serial Entrepreneur und Keynote Speaker und zählt weltweit zu den Pionieren von Scrum und Agilität. Für ihn war „Agile“ immer mehr als reine Methodik: Als einer der Ersten hat er erkannt, dass in agilen Denk- und Arbeitsweisen die Kraft steckt, Organisationen von Grund auf neu auszurichten und dadurch fit für das 21. Jahrhundert zu machen. An seinen Ideen zu einem modernen, agilen Management orientieren sich heute viele nationale und internationale Unternehmen. Als Vater zweier Kinder hat Boris ein starkes Bedürfnis, in der Gesellschaft etwas positiv zu verändern. Deshalb engagiert er sich u. a. für eine radikale Umkehr des derzeitigen Bildungssystems, wie etwa mit dem erfolgreichen Pilotprojekt Scrum4Schools. Er ist fest davon überzeugt, dass Selbstorganisation und das Prinzip der Freiwilligkeit die besten Wege sind, um Ziele zu erreichen und ein eigenständiges Leben zu führen.

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