Stefan, wie war das mit dem Scheitern?

Stefan ist Produkt- und Projektmanager bei einem großen deutschen Automobilkonzern, einer Branche mitten im Umbruch. Ich habe ihn vor zwei Jahren kennengelernt, als in seiner Abteilung agile Zusammenarbeitsmodelle zunächst pilothaft ausprobiert und dann gesamthaft implementiert wurden. Aus meiner Sicht kann man von Stefan viel darüber lernen, was es heißt, sich auf agile Rollen einzulassen, viel auszuprobieren, Verantwortung zu übernehmen, zu hadern, auch mal zu scheitern und vor allem aber: (konstruktiv) kritisch den Weg einer Transformation mitzugehen. Das heißt, darauf zu schauen, was funktioniert, um es zu übernehmen und nicht müde zu werden, anzusprechen, was aus der persönlichen Sicht nicht funktioniert. Auch wenn man damit aneckt. Heute darf ich seinen Weg mit ihm reflektieren und ich freue mich sehr darüber.

Welche agilen Rollen hast du in den letzten zwei Jahren übernommen?

Stefan: Zunächst war ich einer der ersten Product Owner in der Abteilung. Allerdings hatte ich gefühlt auch die Agile-Coach-Rolle, wenn ich an die laterale Führungsrolle für die Menschen und die Prozessabläufe denke. Vielleicht war das so, weil ich einen Agile Coach an meiner Seite hatte, der ebenfalls als interne:r Mitarbeiter:in wie ich komplett neu in der Rolle war, und ich deshalb die Themen nicht loslassen konnte oder wollte. Eigentlich habe ich auch selbst im Team mitgearbeitet, weil ich Experte für das Produkt war und das im Team nicht einfach „wegzukompensieren“ war. Das klingt nicht nach einem Product Owner „by the book“, aber es war  so. Ich denke, ich habe das Team maßgeblich geformt und dabei auch lernen müssen, was es heißt, Verantwortung abzugeben für ein Team, dass ich lange betreut habe, und geteilte Verantwortung zuzulassen. Es macht mir heute noch Freude, zu sehen, wie sich die Teammitglieder zunehmend selbst organisieren und auch die agilen Rollen immer schärfer werden.

Anschließend durfte ich kommissarisch die neue Führungsrolle „Chapter-Lead“ übernehmen. Ich sollte Menschen mit homogenen Skills, die verteilt in den agilen Teams arbeiten, in die operative, fachliche Exzellenz führen. Eine tolle Erfahrung und Gelegenheit für mich, eine mehrdimensionale Organisation mitaufzubauen und ein Chapter zu formen.

Wie hast du dich auf diese Rollen vorbereitet?

Ich hatte eine Product-Owner-Schulung und interne agile Basis-Trainings zur Vertiefung. Allerdings habe ich mich auch eigeninitiativ weitergebildet. Ich bin SAFe®-Programm-Manager und habe mir ganz viele Videos zu den neuen Arbeitsweisen angeschaut. Ich wollte einfach verstehen, wie das alles geht und auch das Universum der Anwendungsfälle kennen, um mir eine eigene Meinung aus Erleben und Theorie darüber zu bilden, was für meine Praxis funktioniert und was einfach nicht passt. Dieses Jahr ist mein Fokus zusätzlich auf agilen Zielsystemen, weil diese Facette für mich eine sehr wichtige ist. Mich treibt um, wie sich agile Teams auf ein gemeinsames Ziel ausrichten und wie ich sie dabei unterstützen kann. Ich denke, das könnte den Teams helfen, zu fokussieren und zu priorisieren. Ich werde mich deshalb dieses Jahr zum OKR-Champion weiterbilden.

Was hat sich bei dir durch das agile Arbeiten verändert?

Drei Dinge. Erstens: die Eigenverantwortung. Auch wenn meine Vorgesetzen das schon vor der Transformation von mir eingefordert haben, treffe ich heute deutlich mehr Entscheidungen und mache einfach – dies ist die persönliche Weiterentwicklung in Verbindung mit der Agilität.

Zweitens: Ich denke, ich bin offener und mutiger geworden, auch in dem, was und wie ich kommuniziere. Früher habe ich mir oft meinen Teil gedacht. Nun mache ich meinen Blick für alle transparent. Auch wenn ich damit vielleicht mal anecke. Ich merke aber auch schneller, wenn die Zusammenarbeit deshalb leidet und meinerseits eine Entschuldigung angebracht ist. Das wiederum fördert die Zusammenarbeit.

Drittens: das Denken in Iterationen und Reflexionen auf ein kurzfristigeres Ergebnis. Ich stecke mir keine Fünfjahreziele mehr. Das heißt, ich wende das Prinzip bei mir selbst an. Ich weiß, wo ich hin will, aber habe keine definierte Zielfunktion. Ich mache etwas und reflektiere in kurzen Abständen, ob das für meinen Weg passt: Wie hat mir das, was ich in den letzten Wochen getan habe, geholfen, das, was ich mir vorgenommen hatte, auch zu erreichen bzw. was stand dem entgegen?

Deshalb habe ich mich z. B. auf die komissarische Rolle des Chapter-Leads eingelassen. Ich habe keine Scheu mehr, etwas auszuprobieren. Auch wenn das vielleicht nicht so ausgeht, wie ich es mir wünsche. Ich verbeiße mich nicht, ziehe Zwischenbilanzen auf Basis von Ergebnissen und reflektiere.

Die Chapter-Lead Rolle hast du ja tatsächlich komissarisch gemacht, sie aber final nicht übernommen. Wie war das mit dem Scheitern?

Scheitern begleitet mich mein Leben lang. Das erste und härteste Scheitern war für mich, dass ich damals mein Studium aufgegeben habe. Da habe ich dann nach der Entscheidung vier Wochen lang gar nichts gemacht. Das war ein Tipp meines Vaters. „Junge, komm zu dir und mach da weiter wo du Erfolg hattest“. Dass ich den Chapter-Lead nicht vollständig übernehmen konnte, war kein Scheitern. Es fühlte sich nicht gut an, früher hätte ich mich komplett zurückgezogen. Ich denke, die Kolleg:innen im Chapter wären durchaus mit mir den Weg gerne weitergegangen. Aber wir haben die Stelle ausgeschrieben und einen tollen Kollegen dafür gewonnen. Ich arbeite sehr vertrauensvoll mit ihm zusammen. Was ich damit sagen will: Früher hätte ich mich vielleicht zurückgezogen. Hier war es eher eine neue Lebenserfahrung und auch wieder viel Reflexion darüber, was ich eigentlich wirklich möchte. Vielleicht will ich keine Leute führen im Sinne einer „Führungskraft“. Was ich aber kann und gerne tue, ist, Menschen zuzuhören und sie zu begleiten, ihnen die richtigen und wichtigen Fragen auf ihrem Weg zu stellen. Es ist auch jetzt noch so, dass viele Kolleg:innen das Gespräch und Sparring mit mir suchen. Das macht mir Freude. Ich möchte damit weiterhin etwas bewegen.

Was ist für dich Agilität und modernes Leadership?

Zuerst bedeutet das, Verantwortung zu übertragen. Ich sage bewußt übertragen und nicht abgeben. Denn das ist was sehr Aktives und Bewusstes. Das gemeinsame Klären, wo jemand bereit ist, Verantwortung zu übernehmen und was der- oder diejenige dazu braucht, um dieser Verantwortung auch gerecht zu werden. Damit verbunden ist ein langsames Ausphasen der bisherigen Verantwortung der Führungskraft. Ein Schlüssel dazu ist, für alle Beteiligten Transparenz über dieses Vorgehen zu schaffen.

Das Zweite ist, dass eine Führungskraft, das, was sie erwartet oder predigt, selbst vorlebt. Mit Authentizität gelingt oder scheitert Agilität.

Das Dritte ist die permanente Befähigung. Raus aus „command und control“ hin zu ausprobieren lassen, daraus lernen und wieder weitermachen lassen.

Was empfiehlst du Menschen, die gerade am Anfang einer Transformation sind?

Nimm mit! Alles, was du erfährst, alles an Wissen und Erfahrung, was dir angeboten wird. Probier so viel wie möglich aus und dann lass das sein, was nicht funktioniert. Finde einen klaren Fokus.

Wie lange sollen diese Menschen etwas ausprobieren, bis sie feststellen, ob es funktioniert oder nicht?

Bei kleinen Themen 14 Tage (einen Sprint lang). Bei größeren – persönlichen  –Themen bis zu sechs Monate. Wichtig ist, sich überhaupt einen Zeitrahmen zu setzen und dann in diesem Zeitrahmen ehrlich auszuprobieren. Und im Anschluss zu reflektieren: Was wollte ich eigentlich erreichen? Was ist gut gelaufen, was nicht so gut? Passt das Ergebnis für mich? Es hilft, sich dabei einen externen oder internen Coach zu nehmen. Das hat mich gezwungen, meine Vorhaben zu evaluieren.

Was wünschst du dir für dich selbst?

Aktuell, dass ich wieder aktiver werde. Ich bin mir gerade zu zäh. Aber auch hier habe ich mir einen Zeitrahmen gesetzt. Ich möchte lernen, auch gegenüber „der alten Linie“ bei Übersteuerung „nein“ zu sagen und mich kontinuierlich in der Agilität weiterzuentwickeln und weiterzubilden.

Titelbild: Steve Johnson, Unsplash

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Ssonja Peter
June 28, 2022

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